Nur eine Simulation von Muße
Peter K. Wagner | 14. November 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Fazit 207, Kunst und Kultur
Es war wieder Herbst in Graz. Unser Autor hat es in diesem Jahr leider nur zu einer Veranstaltung geschafft. Im eigentlich geschlossenen »Kastner« zu Graz machte er sich auf die Suche nach den Idealen der Erholung.
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Freitag ab eins – macht jeder seins, hörte ich vom Chefredakteur bei meinem ersten Praktikum stets. Immerhin ist in einer konventionellen Arbeitswelt der letzte Werktag der Woche auch der Startschuss fürs Wochenende. Also hoch die Hände und ab zur Freizeitbeschäftigung der Wahl. Nun, da es herbstelt, muss ich mich darauf einstellen, dass das größte Wintermußemissverständnis bald zurückkehrt: das »Glühweintrinkengehen«. Davor geht‘s vielerhaushalts noch zum handelsüblichen Herbstausflug. Wahlweise in Tour-de-France-geprüften atmungsaktiven Zweiteiler am E-Bike. Oder mit dem PKW raus in die Natur. Wer sich am Parkplatz verirrt, geht dabei länger als die 27 Meter zur Lieblingsbuschenschank.
Bester Ort zum Shoppen
Weil Weihnachten vor der Tür steht, gewinnt der Dauerbrenner »Einkaufengehen« auch an Bedeutung. Für Kommerzrauschige gibt es in Graz seit über 150 Jahren eigentlich keinen besseren Ort dafür als »den Kastner«. Und somit sind wir angekommen. Es ist Freitag, lange nach eins, und der Autor dieser Zeilen macht endlich seins. Er gönnt sich Kultur beim hoch geschätzten »Steirischen Herbst«.
Wanderlust im Konsumtempel
Es ist kurz vor 20 Uhr, unsere Führerin trägt Wanderschuhe an den Füßen und Steiermarkkarte in der Hand. Sie steht im Foyer des Grazer Traditionskaufhauses Kastner & Öhler. Auf dem Programm steht eine vielseitige Simulation zweier beliebter Formen der Muße: Wandern und Einkaufen. »Warenhaus Wanderlust« nennt Thomas Verstraeten das Schauspiel, in dem die Grenze zwischen Konsum und Naturerlebnis verwischen. Der belgische Künstler will uns wohl fragen, ob wir unsere Freizeit wirklich als authentische Erholung erleben.
Künstliche Natur, dafür Kunst
Ganz und gar nicht authentisch ist in seiner Performance jedenfalls die Natur. Die Bäume sind künstlich, das Vogelgezwitscher wohl aus Graz, aber eingespielt, dem Kaufhaus fehlt es zwar nicht an Waren, doch weder Rolltreppen noch Kassen sind aktiviert. »Bitte zusammenbleiben, es kann schnell gefährlich werden in der Natur«, ist von der Führerin und ihrem Kollegen mehrdeutigst zu hören. Oder: »Wir sind hier nur Gäste, bitte nichts hinterlassen«. Im Tiefgeschoß wird nebst der Holzdeko nahezu naturgemäß Brenngut geschlagen. Das nackte Liebespaar liegt hier auch richtig – den auch auf einer fiktiven Alm »gibt’s ka Sünd«. Dass die beiden sich in der Dirndl- und Lederhosenabteilung vergnügen, ist zusätzlich praktisch, hängt doch nur hier die veranstaltungsgerechte Kleidung danach. Apropos. Die Mode der jagenden oder musizierenden Darsteller weckt wahrlich nostalgische Gefühle. Sie bildet einen starken Kontrast zu den modernen Kollektionen, die hier feilgeboten werden. Letztlich betonen all die gezeigten steirischen Traditionen der Marke »Erlebnistag im Freilichtmuseum Stübing« eine weitere zentrale Frage: Ist ein Innenstadtkaufhaus wie »der Kastner« ein Relikt alter Tage? Als der Lift, pardon »die Gondel«, nach unten fährt, und wir wieder im Erdgeschoß ankommen, ist es schließlich Zeit für den obligatorischen Kulturabendabschluss. Richtig, es geht ums »Noch-Was-trinken-gehen«. Es war erst Mitte Oktober. Glühweinstand wurde es folglich keiner. Glücklicherweise, wie ich festhalten möchte. Immerhin gilt für die Freizeitgestaltung auch noch um Freitag ab »neine«: jedem das Seine. n
Alles Kultur, Fazit 207 (November 2024), Foto: Johanna Lamprecht
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