Niedergang des Christentums. Nicht erst seit dem 20. Jahrhundert
Redaktion | 11. Dezember 2024 | Keine Kommentare
Kategorie: Essay, Fazit 208
Ein Essay von David Engels. Der Niedergang des Christentums, insbesondere des Katholizismus, wird oft dem Zweiten Vatikanum zugeschrieben. Doch die Ursachen reichen tiefer, verwurzelt in jahrhundertelangen Entwicklungen, die das Verhältnis von Kirche, Gesellschaft und Transzendenz allmählich verändert haben.
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Dr. David Engels, geboren 1979 in Verviers, Belgien, studierte Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaftslehre. Nach der Promotion in Alter Geschichte in Aachen wurde er 2008 auf den Lehrstuhl für Römische Geschichte an der Freien Universität Brüssel (ULB) berufen. Seit 2018 arbeitet er am Westinstitut (Instytut Zachodni) im polnischen Posen. davidengels.be
Oft genug hört man in tradi-katholischen Kreisen und auch in einigen sonstigen »rechten« Milieus (was auch immer »rechts« heutzutage heißen mag) das Narrativ, der Niedergang des (vor allem katholischen) Christentums sei den Fehlentscheidungen des zweiten Vatikanums geschuldet – und eine Beibehaltung der Alten Messe etwa hätte eine völlig andere Entwicklung ermöglicht. Dies ist zwar eine einfache und praktische Darstellung der Ereignisse, die zumindest den strategisch-propagandistischen Vorteil hat, monokausal ein einziges Feindbild zu konstruieren und entsprechend simple Auswege aufzuzeigen. Nur: So einfach ist die Lage nicht.
Nun wäre der Verfasser dieser Zeilen der Letzte, der die Einführung des Novus Ordo für eine gute Idee halten würde, wenn ich auch zugeben muss, wenigstens hier in Polen regelmäßig Messen gehört zu haben, die in der neuen Form gehalten waren und trotzdem in vielerlei Hinsicht eine Ehrwürdigkeit und Tiefe besaßen, die zwar nicht an den alten Ritus heranreichen, aber doch die offensichtlichsten Kritikpunkte der Gegner weitgehend entkräfteten: Wären die Messen im Westen des Kontinents ähnlich gestrickt, würde sich die Frage nach der Zukunft des Christentums zumindest nicht wie bislang aus vor allem ritueller Perspektive stellen.
Es kommt mehr auf die Tiefe als auf den Ritus an
Denn wenn auch der Ritus als solcher ein zentrales und entscheidendes Element der Glaubenspraxis ist, so darf doch nicht vergessen werden, dass sowohl auf der Seite des Zelebranten als auch auf der Seite der Gläubigen ein gewisser innerer Gehalt vorhanden sein muss, damit die Messe nicht »nur« eine formal gültige Form der Gottesverehrung und der Eucharistie ist, sondern auch ein Ereignis, das einen anderen als einen mechanischen »Sinn« hat. Dieser »Sinn« ist aber nicht erst seit dem Zweiten Vatikanum bedroht, sondern schon viel früher: Die revolutionären Veränderungen des Konzils wären nicht möglich gewesen, wenn es nicht einerseits bei einem erheblichen Teil des Klerus ein tiefes und entsprechend ernst zu nehmendes Krisenbewusstsein gegeben hätte und andererseits eine bedenkliche Bereitschaft, auf die Herausforderungen der Gegenwart mit einem radikalen Traditionsbruch zu reagieren.
Wenn die Rückkehr zur alten Messe die zentrale Stellschraube der gegenwärtigen Kirchenkrise wäre und den idealisierten status quo ante im Handumdrehen wiederherstellen würde, dann stellt sich die Frage, wie es dann weltweit dazu kommen konnte, dass sie so radikal abgeschafft wurde und dies auch noch von einer signifikanten Mehrheit der Priester und Gläubigen begrüßt oder zumindest toleriert wurde. Mit anderen Worten: Schon vor der weitgehenden Abschaffung der Alten Messe war irgendwie der Wurm drin.
Über die Resilienz und Entwicklung der Kirche
Freilich ist oft und zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Kirche eine Institution ist, die seit ihrem Bestehen aus guten wie aus schlechten Gründen totgesagt wurde und dennoch alle anderen Institutionen überlebt hat; die eigentliche Frage ist also nicht unbedingt das »Warum« der allzu menschlichen Verfehlungen einer Institution, die eben auch »nur« aus Menschen besteht, sondern das erstaunliche Überleben, ja das stetige Wachsen einer von innen wie von außen stets bedrohten Kirche – ein Faktum, das eben fast nur mit göttlicher Gnade erklärt werden kann. Diese Argumentation wird man nun kaum in toto bestreiten können; dennoch ist unübersehbar, dass auch und gerade in der Kirche deutliche Auf- und Ab-Bewegungen festzustellen sind und dass gerade die innige Verbindung zwischen katholischer Kirche und abendländischer Kultur erstere in vielem den Entwicklungen letzterer unterworfen hat. Denn auch wenn zumindest die römisch-katholische Kirche ihrem Selbstverständnis nach im Unterschied zu den orthodoxen und protestantischen Kirchen universal ist und inzwischen überall auf der Welt, vor allem in Lateinamerika, im subsaharischen Afrika und zunehmend auch in Ostasien, Ableger gegründet hat, so ist diese Entwicklung doch relativ jung, so dass man für weite Teile der europäischen Geschichte von einer weitgehenden Identität zwischen katholischer Kirche und abendländischer Zivilisation sprechen kann. Das bedeutet aber auch, dass die typischen Verfallserscheinungen unserer Kultur auch Auswirkungen auf ihre geistige Entwicklung gehabt haben müssen – und diese Effekte lassen sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen.
Eine Zeitreise
So ist das Zweite Vatikanum, das von 1962 bis 1965 stattfand, kaum ohne die allgemeine Stimmung der »1968er« zu erklären, die ihrerseits nur den Höhepunkt einer gewissen antitraditionalistischen Zeitstimmung und moralischen »Liberalisierung« (man könnte auch sagen: Auflösung) darstellten, die vielfältige Wurzeln hatte und zweifellos auch die Kirche allmählich erfasste, die diese Zeitstimmung teilweise eben auch aufnahm. Diese Stimmung kam nicht aus dem Nichts: Wenn wir etwas weiter zurückblicken, sehen wir, dass die Kirche zwar ein wichtiger, ja zentraler Gegner der verschiedenen totalitären Regime des 20. Jahrhunderts war, dass aber deren Entstehung in einem durch und durch christlich geprägten Raum kaum denkbar gewesen wäre. Die Reduktion des Nächsten auf seine Klasse oder Rasse und die entsprechenden freiheitseinschränkenden und genozidalen Konsequenzen waren nur möglich, weil eine rein materialistische Weltsicht traditionelle Glaubensinhalte verdrängt und untergraben hatte. Und diese Aushöhlung hatte tiefe Wurzeln.
Blickt man auf das 19. Jahrhundert, so stellt man fest, dass die unbestreitbar enormen Fortschritte der Wissenschaften den auch intellektuellen Führungsanspruch der Kirche deutlich in Frage stellten: Diese war kaum mehr in der Lage und willens, die zahlreichen Hypothesen und Theorien, die in rascher Folge entstanden und zum Teil ebenso schnell akzeptiert wie überholt waren, mit dem bisherigen Weltbild in Einklang zu bringen, das – zum Teil wohl in naiver Weise – auf einer allzu wörtlichen Auslegung der biblischen Aussagen zu naturwissenschaftlichen Fragen beruhte.
Wann begann die Krise?
Doch auch hier war das 19. Jahrhundert kaum der eigentliche Beginn der Krise, waren doch wichtige Grundlagen eines solchen vermeintlich »aufgeklärten« Glaubens bereits im 18. Jahrhundert gelegt worden, dessen Lumières eben nicht nur von radikalen Atheisten, sondern auch von rationalistischen Geistlichen entfacht worden waren. Für diese war Gott bestenfalls ein aus der Geschichte ausgetretener Uhrmacher, und der eigentliche Sinn des Glaubens bestand im rein innerweltlichen Aspekt der zwischenmenschlichen Konfliktvermeidung und Gesellschaftsstabilisierung: Es sollte nie vergessen werden, dass auch das »Ancien Régime« geistig überaus morsch war, da ansonsten eine so rasche, vollständige und gewalttätige »Abwicklung« der Kirchen durch die Revolution (in deren Reihen durchaus zahlreiche »aufgeklärte« oder laisierte Geistliche mitkämpften) überhaupt nicht denkbar gewesen wäre.
Aber auch das 18. Jahrhundert kann kaum als alleinige Ursache des inneren Übels angesehen werden, das zu einem nicht geringen Teil auch darin bestand, dass der Alleingültigkeitsanspruch der katholischen Kirche für das Seelenheil des Abendlandes bereits im 16. und 17. Jahrhundert durch die Reformation und die Religionskriege zunichtegemacht worden war, so dass die Existenz einer solchen »Alternative« zu einer tragischen Reduktion der »Una sancta« auf eine Konfession unter anderen führen musste (eine Relativierung, die man bisher nur an den diffusen östlichen Grenzen zum orthodoxen Bereich kannte). Und auch die Reformation entstand nicht im luftleeren Raum, sondern reagierte sowohl auf den Vorwurf einer gewissen Verweltlichung der Renaissancekirche als auch auf die zunehmend innerweltlichen, nicht mehr traditional oder transzendental legitimierten beziehungsweise ausgerichteten Machtbestrebungen regionaler und frühnationaler Territorialfürsten, die mit dem holistisch-universalistischen Weltbild des Mittelalters und seiner Idee des Reiches nicht mehr viel anfangen konnten. Und auch im Mittelalter selbst waren zweifellos Kräfte am Werk, die diese Entwicklung vorbereiteten – man denke nur an den Investiturstreit und die Auseinandersetzung zwischen Nominalisten und Realisten, um hier eine hochkomplexe Situation nur kurz anzudeuten.
Zurückgezogen, verlorengegangen
Kurzum: Die Kirche hat eine lange und bewegte Geschichte hinter sich, die vor allem seit dem 16. Jahrhundert von einem zunehmenden Rückzug aus Politik, aus Gesellschaft, aus Kunst und schließlich auch aus den Seelen der Menschen geprägt worden ist, nicht unähnlich analogen Entwicklungen vieler anderer Zivilisationsreligionen im Laufe der Zeit, und die Gründe sind alles andere als monokausal, sondern überaus komplex und auf die innigste Weise mit der inneren und äußeren Entwicklung des Abendlands verbunden. Im Kern steht dabei freilich die zunehmende Abwendung vom grundlegenden Paradigma von Transzendenz und Außerweltlichkeit und die Hinwendung zu rein gesellschaftlichen Fragen, frei nach Spengler, der einmal nicht zu Unrecht sagte: »Eine Religion, die bei Sozialproblemen angelangt ist, hat aufgehört, Religion zu sein.«
Die Konsequenzen: In der westlichen Welt gibt es keine wichtige Institution mehr, die den menschlichen Wunsch nach etwas Höherem aufgreift und dabei hilft, diesen Wunsch mit den Lehren und Erkenntnissen einer Religion in Einklang zu bringen. Das mag mancher voreilig als Freiheitsgewinn, ja gar als »Emanzipation« betrachten. Es bietet aber auch und vor allem Raum für enorme, in der Geschichte übrigens in schönster Regelmäßigkeit immer wieder begangene schreckliche Irrtümer – und macht jenen Kräften das Leben einfach, die den Drang hin zu Gott entweder ersticken, ablenken oder pervertieren wollen. Materialismus, Hedonismus, Bevölkerungsschwund, Ultraliberalismus, Familienzerfall, Verantwortungslosigkeit, Selbsthass oder Extremismus sind ebenso die logischen Konsequenzen des Verdämmerns des Christentums wie die zahlreichen falschen Götzen, die an seine Stelle getreten sind: von der »Klimakirche« über die zahlreichen »Dekonstruktionen« der Neuzeit bis hin zu Intersektionalismus und der »one world«.
Heimkehr
Der Ausweg kann, zumindest für das spätzivilisatorische Abendland, nur in einer Rückkehr zum Christentum liegen, allen voran dem katholischen, denn die protestantischen Kirchen lösen sich entweder auf oder mutieren zu einem stark außereuropäisch beeinflussten, naiven Sola-scriptura-Evangelikalismus, der in vielerlei Hinsicht nur noch begrenzt auf den theologischen und kulturellen Grundpostulaten des europäischen Christentums beruht. Doch wie eine Kirche, die sich gegenwärtig weitgehend selbst vergessen zu haben scheint, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen kann – das mag Gegenstand einer weiteren Betrachtung sein.
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Vorliegender Text erschien am 31. Oktober auf der Webseite des Onlinemagazins »Corrigenda«. Wir danken für die freundliche Genehmigung, ihn auch abdrucken zu dürfen. corrigenda.online
Essay, Fazit 208 (Dezember 2024), Foto: Archiv
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